Vergessene Welt

Im Zusammenhang mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns war oft von der Schattenwirtschaft die Rede.

Auch wenn dabei vornehmlich die Schwarzarbeit gemeint war, ist der Sektor der sogenannten Schattenwirtschaft erheblich größer. Ein wesentlicher Bestandteil im legalen Bereich sind auch die Werkstätten für behinderte Menschen. Erstaunlicherweise wurde in Bezug zu dieser Thematik die Einführung des Mindestlohnes nicht wirklich ernsthaft diskutiert. Das ist aber nicht die einzige Auffälligkeit, die dieser Bereich offenbart. Ein Aufschrei der Entrüstung ist weder aus Gewerkschaftskreisen, noch aus der Politik, noch aus der breiten Öffentlichkeit zu vernehmen gewesen.

Die Werkstätten erscheinen vielmehr wie eine Parallelwelt, für die sich nur wenige wirklich interessieren.

Dabei ist die Größenordnung des Sektors beachtlich. Bundesweit arbeiten dort rund 300.000 Menschen, allein in Berlin und Brandenburg gibt es etwa 50 derartige Einrichtungen. Sie alle haben die gesetzliche Aufgabe, denjenigen einen Arbeitsplatz zu bieten, die nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Die Werkstätten sollen den Übergang behinderter Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt durch geeignete Maßnahmen fördern. Außerdem sollen die Werkstätten nach wirtschaftlichen Grundsätzen geführt werden und den dort Beschäftigten ein ihrer Leistung angemessenes Entgelt zahlen. Dies beinhaltet, dass die Werkstätten auch Kunden werben und zufrieden stellen müssen, um ihre Rentabilität zu gewährleisten. So formuliert es das Sozialgesetzbuch.

Doch die Realität bietet ein anderes Bild.

Die Vermittlungsquote in den ersten Arbeitsmarkt liegt seit Jahren deutlich unter 1 Prozent. Die ausbezahlten Löhne bewegen sich in der Höhe eines Taschengeldes, im Durchschnitt sind es 130 Euro pro Monat. Davon haben die Empfänger aber noch diverse Kosten zu bestreiten. Aufstockung ist also an der Tagesordnung. Sind die behinderten Menschen dort einmal untergebracht, ist von weiterer Förderung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt auch nicht mehr viel zu spüren.

Eine individuelle Förderung innerhalb der Werkstätten ist oft nicht einmal ansatzweise vorgesehen.

Stattdessen dienen die Werkstätten als willkommen günstiger Dienstleister für die Wirtschaft. Eine Firma, die einzelne Tätigkeiten durch eine Behindertenwerkstatt erledigen lässt, kann diese Arbeitsleistung mit der eigentlich fälligen Ausgleichsabgabe verrechnen. Die Ausgleichsabgabe, die gezahlt werden muss, wenn die Unternehmen selbst keine Behinderten einstellen, kann auf diese Weise um bis zu 50 Prozent reduziert werden. Als Doppeleffekt bieten die Werkstätten ihre Leistungen auch noch zu unschlagbar günstigen Konditionen an, so dass Produkte und Dienstleistungen dort zu Dumpingpreisen zu haben sind. Die Werkstätten sind damit durchaus florierende Wirtschaftsunternehmen, die am Abbau ihrer Leistungsträger natürlich wenig Interesse haben. Vom Mindestlohn ganz zu schweigen. Dabei wird nachweislich täglich ergebnisorientierte Leistung abgefordert und auch erbracht. 

Mit staatlicher Duldung wird dieser Bereich vor den Regeln des Marktes geschützt, obwohl kräftig an ihm verdient wird.

Das Nachsehen haben behinderte Menschen, denen noch nicht einmal die Freizügigkeit zugestanden wird, sich ihren Arbeitgeber selbst zu suchen. Aufstockung und Armut bestimmen stattdessen ihren Lebensweg. Auch deshalb steht dieses Werkstatt-System in der Kritik der Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte. Parallelwelten für behinderte Menschen sollten seit der UN-Behindertenrechtskonvention längst der Vergangenheit angehören. Deutschland ist davon sehr weit entfernt. Textquelle: Ralph Kaste

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